Bin ich ein…???

Als ich jung war (okay, ich fühl mich immer noch jung, aber die Tatsache, dass mich 20-jährige Studentinnen mit Sie ansprechen und diese aufgesetzte Höflichkeit an den Tag legen, die man bei Gleichaltrigen nicht braucht sagt mir, dass das nur noch eine Selbstwahrnehmung ist), kannte kein Mensch den Begriff Nerd, auch ich nicht. Und hätte ich ihn gekannt, ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich selbst so zu bezeichnen.

Schließlich entsprach ich damals auch nicht dem allgemein gängigen Bild eines Nerds. Ich trug keine Brille, hatte keinen Mutterkomplex und war auch nicht hochintelligent. Ich war in Mathe immer einer der schwächsten in der Klasse und interessierte mich so gar nicht für Physik und Chemie.

Aber ich liebte Star Wars und Star Trek, Fantasy und Science Fiction. Machte mir Gedanken über Zeitreiseparadoxa, Wurmlöcher und die Frage, ob Einhörner Stuhlgang haben oder nicht (Man stelle sich ein Einhorn, dieses reine und erhabene Geschöpf vor, wie es mitten auf einer lichtdurchfluteten Lichtung steht und einen Haufen dampfender Pferdeäpfel fallen lässt). Ich spann Filme und Bücher in meinem Kopf weiter, tauchte in die erfundenen Welten ab, führte Strichlisten über Schauspieler die geeignet wären Homer Simpson in einer Realverfilmung darzustellen (es gibt niemanden) und durchforstete Filme Bild für Bild nach Fehlern und versteckten Botschaften.

Ich hätte mich gerne in LARPs mit anderen Gleichgesinnten in andere Realitäten gestürzt, wenn ich denn irgend jemanden gekannt hätte, der wusste wo LARPs stattfinden oder überhaupt wusste was das ist und ich las und sammelte Comics (mach ich im Übrigen immer noch). Ich überlegte mir Superkräfte die ich gerne hätte, wozu ich sie benutzen würde, zeichnete mögliche Kostümentwürfe und diskutierte ungeheuer gerne über die unterschiedlichen Fähigkeiten meiner persönlichen Helden. Ich verzweifelte an der Frage: SEGA oder NINTENDO (so wie viele heute an X-BOX vs. PLAYSTATION) und wünschte mir, Prinzessin Zelda würde Hyrule verlassen und mich besuchen.

Aber ich mochte auch Sport. Vor allem Mannschaftssportarten: Fußball, Basketball, sogar Handball. Ich interessierte mich für Tiere und die Natur, mochte Musik und als ich in das Alter kam, in welchem ich selbst mobil wurde verbrachte ich meine Wochenenden in Kneipen, Diskotheken und auf Konzerten. Ich ließ wenig Erfahrungen aus und war zusammen mit meinen besten Freunden immer dort dabei, wo es zur Sache ging. Ich hörte Heavy Metal und Punk, nahm Obst nur als Sirup im Cocktail zu mir und griff mit manchem Mädchen nach den Sternen.

Ich war wohl ein Teilzeitnerd, wenn ich alleine war, dann tauchte ich in diese Fantasiewelten ein und lebte meine Hobbys voll und ganz aus, doch in Gesellschaft war ich wie alle anderen.

Warum ich das hier schreibe? Weil ich sagen möchte, dass Klischees nun einmal selten passgenau sind und es nur wenige einheitliche Definitionen gibt. Und vielleicht sollten wir alle endlich einmal begreifen, dass niemand etwas ist, sondern immer ein Jemand, der aus Vielem besteht.

Schubladen engen nicht nur denjenigen ein, der hineingesteckt wird, sie verhindern auch, dass wir uns mit Menschen auseinandersetzen, weil wir sie viel zu früh einteilen und ablegen. Dadurch bestehlen wir uns selbst, denn wir nehmen uns Erfahrungen. Wir verpassen Möglichkeiten uns in der Auseinandersetzung mit Anderen selbst besser kennen zulernen, bis wir unsere eigene Welt so klein gemacht haben, dass wir uns gefangen fühlen.

Wir alle tragen tagtäglich so ungeheuer viele Masken und legen immer nur einige ab, aber nie alle, selbst wenn wir ganz und gar mit uns alleine sind, spielen wir, weil wir selbst immer auch nicht nur Akteur, sondern auch Publikum sind und vielleicht die strengsten Kritiker unserer Aufführungen. Es geht auch gar nicht darum, diese Tatsache zu ändern, das wird uns ohnehin nie ganz gelingen können, da wir letztlich unter der allerletzten Maske immer noch eine weitere finden werden, aber wenn wir diese Tatsache für uns selbst annehmen, dann sind wir vielleicht auch in der Lage anderen Menschen mit mehr Langmut und Geduld zu begegnen und so vielleicht dort Brücken zu bauen, wo andere nur Zäune ziehen wollen.

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