Makellosigkeit…

am

Jeder hat sie.

Die kleinen Makel und Mängel, die irgendwie stören und die man versucht zu kaschieren.

Ich denke jedenfalls, dass jeder sie hat. Wer ist schon perfekt und gibt es das überhaupt? Perfektion? Muss es das geben? Will das irgendjemand?

Wenn der Haaransatz zu hoch ist, die Wangengrübchen zu tief, die Nase ein wenig schief im Wend hängt oder der große Zeh leicht nach innen knickt, dann beginnen die Zweifel. „Bin ich attraktiv?“, „Sieht das gut aus?“.

Und man sucht nach Möglichkeiten der Veränderung.

Kleine Fettpölsterchen lassen sich leicht vertreiben. Ein paar Tage etwas mehr auf die Ernährung geachtet, mehr Bewegung und schon passt es wieder und die Lieblingsjeans zwickt nicht mehr.

Im Idealfall gibt man sich damit dann zufrieden, weil man einfach nur eine Kleinigkeit beseitigt hat, die eben störte. KAnn vorkommen, kann gelöst werden.

Aber manchmal sieht man eben viel zu genau hin.

Kann da nicht noch etwas weg? 

Ich spreche da ja durchaus aus Erfahrung. Schließlich war ich zeitlebens ein geplagter meiner Gewichtsschwankungen. Als Kind immer an der Grenze zwischen leicht stämmig und doch schon etwas zu kräftig. Ein beständiges Auf und Ab. Mir hat es eben geschmeckt. Und Essen ist ja etwas tolles. Es ist immer gut zu einem. Gerade wenn man mal betrübt ist schafft es so ein warmes und angenehmes Gefühl im Inneren. Das braucht man hin und wieder. Schokolade kann das ganz gut. Zucker auch (Mein Gute Laune Rezept, wenn nichts anderes zu Hause war: Haferflocken und Zucker im Verhältnis 50:50 mischen und kurz erhitzen, der Zahnarzt freut sich da dann auch), nur nicht ganz so friedlich, eher antreibend, kurzzeitig jedenfalls.

Als Kind kam ich damit aber noch einigermaßen klar. Da machst du dir wenig Gedanken über Figur und Aussehen und wirst damit auch nicht oft konfrontiert, außerdem waren das die 80er, Obelix und Bud Spencer waren cool und ein Waschbrett kannte man noch von Zuhause, weils die Oma irgendwo im Keller stehen hatte.

Aber mit der Pubertät änderte sich dann eben alles und man stand vorm Spiegel und fragte sich: „Kann man das nicht wegmachen?“. Aber wie? Training hörte sich ja schön und gut an, aber wie ging das denn? Außerdem war dafür gar keine Zeit. Und weniger Essen? Wenn man doch so verdammt viel Hunger hat und alle anderen mit Chipstüten, Gummiparaden und Doppelkeksen in der Pause dasitzen, wer beißt da schon in die Karotte. Außerdem befasst man sich ja in diesem Alter mehr mit den Makeln anderer, vornehmlich der Mädchen: „Was hältst du von C…?“, „Ganz nett, aber die Brille… nein, geht nicht“. „Und was ist mit A…?“. „Ja, ganz hübsch, im Gesicht, aber der Hintern…“ usw. usf. Zu groß, zu klein, zu kurze, zu lange Beine, schiefe Zähne, flache Brüste, X-Beine, dicke Finger, Pickel im Gesicht, Damenbart… ja da fand man schon etwas. Vor allem Gründe warum man das Mädchen doch nicht ansprach. So fiel sie nicht ins Beuteschema und man konnte verbergen dass man eigentlich nur viel zu viel Angst hatte und auch genau wusste, dass man selbst nicht gerade der Traumtyp war.

Aber erst später kam dann das Verständnis für die Zusammenhänge im Körper. Fitness ist eigentlich ganz gut. Hörte man. Also ab ins Studio. Drei Mal pro Woche, dann kommen die Muskelpakete… Aber beim täglichen Mucki-Check vorm Spiegel immer noch nur Waschbär statt Waschbrett (ja nun wusste man schon, was das ist). Vergeblich betrachtete man sich im Spiegel beim Lifting der Hanteln und hoffte mit ansehen zu können, wie der Bizeps anschwoll. Tat er aber nicht. Also wozu weiter hingehen? Lieber zu Mc Donalds… Da kann man zusehen wie es wirkt. Das geht schneller. Außerdem hat man am Wochenende auch was anderes zu tun, als im Fitnessstudio zu schwitzen. Abends Party, tagsüber schlafen und dazwischen versuchen, die peinlichen schiefgegangenen Baggerversuche zu verdrängen.

Außerdem braucht ein Mann ja ein wenig etwas zum Anlehnen. Ein gemütliches Kissen und es ist immer dabei, da sollten die jungen Damen doch dankbar sein… und nicht so oberflächlich. Man hat ja innere Werte und Charakter. Das müssen sie doch erkennen die hübschen, schlanken Mädels… nicht die Anderen… die nicht… na ja… man ist selbst ja nicht oberflächlich aber… aber… na ja, geht halt nicht.

Und dann? Nun man wird mehr, also rein physisch. Alles wächst und gedeiht. Es schmeckt ja auch so gut.

Und plötzlich merkt man: „Mist, jetzt gehöre ich auch zu denen… über die ich früher gelacht habe“. Und plötzlich findet man das nicht mehr zum lachen. Jetzt muss was passieren. Also ist man zum ersten Mal konsequent. Beisst sich durch, durch Sellerie, Karotten und Kohlsalat. Volles Korn gibts jetzt nicht mehr im Stamperl, sondern als Brot. Wertvolle Zutaten sind jetzt nicht mehr Hopfen und Malz, sondern Buchweizen und Leinsamen. Und dazu mehr Bewegung.

Und siehe da, als man durchhält passierts tatsächlich. Es wird weniger und man fühlt sich gut. Stolz und Stark. Man hats geschafft. Jetzt nur nicht aufhören. Regelmäßigkeit und Kontrolle. Ja es klappt. Plötzlich steht man vorm Spiegel und sieht was hinter einem steht und man kann die Zehen sehen, ohne sich nach vorne bücken zu müssen. Endlich.

Und dann hört man auf.

Im Idealfall. 

Oder man bekommt Angst.

Was, wenn ich aufhöre abzunehmen? Wenn ich normal esse, wirds dann wieder mehr? Aber was ist normal? So wie vorher wohl nicht. Aber was dann? Es soll ja nicht mehr werden? Aber was wenn ich nächste Woche auf die Waage steige und das Gefühl des Stolzes und der Befriedigung setzt nicht ein, weil die gleiche Zahl da steht wie heute? Nein, ich mach lieber weiter, zumindest bis diese Falte an der Hüfte ganz weg ist. Und ist da nicht noch ein wenig Fett am Oberarm. Das muss auch noch weg.

Aber das geht nicht weg. Weil man es immer wieder findet. So gut kann es sich gar nicht verstecken das Pölsterchen, dass man es nicht doch noch findet. Irgendwo zwischen dem dritten und dem vierten Rippenbogen ist es noch. Und da, wo das Becken so hervorsticht, war da nicht noch eben eine kleine Beule? Also lieber noch weiter machen, ein wenig noch. Außerdem fühlt es sich ja gut an. So kontrolliert. Man hat es echt im Griff. Hunger? Ha, ich bin stärker. Ich beherrsche den Körper und damit mein Glück.

„Junge, so geht das nicht weiter“, sagen sie dann, „du musst mehr essen“.

Nee, muss ich nicht. Denkt man und sagt aber nichts. Man hat eh alles unter Kontrolle. Ratschläge brauche ich doch nicht. Und jetzt geh ich noch ne Runde joggen. Eine halbe Stunde, also einmal ums Haus. War der Weg immer schon so weit? Und sollten die Beine nicht leichter zu heben sein als früher? Und warum wirds so dunkel, ist doch erst nachmittag?…

Autsch, der Kopf tut weh. Wieso liege ich nochmal hier am Boden? Ach ja, es war dunkel und… Oha, ich werde doch nicht etwa krank? Ach was, geht schon. Sicher nur ein wenig Unterzucker. Kurz ein Stück Traubenzucker und… ach nee. Lieber nur ein halbes. Reicht auch. Hoffentlich schlägt sich das nicht gleich auf den Bauch. Gleich mal testen. Hm? nicht unbedingt straff. Da ist sicher wieder was dazugekommen. Wieviel Kalorien hat Traubenzucker? 350 pro 100g? In etwa? Also verzichte ich halt nachher auf die halbe Orange die ich geplant hatte, dann geht das schon.

Und dann ist es irgendwann so weit. Man gibt in der Überzeugung alles unter Kontrolle zu haben die Kontrolle ab. Muss man, denn sie wird einem genommen und die Ärzte übernehmen ab da.

Ich will jetzt nicht über Essstörungen an sich schreiben, die gehören ohnehin zu den medial am stärksten abgehandelten psychischen Krankheiten. Und natürlich sind die Beweggründe anfangs ganz verschieden, aber sehr oft steht da eben das Finden von Makeln an sich selbst.

Das kann natürlich auch anders ablaufen.

Die schiefe Nase erledigt der Chirurg. Warum auch nicht? Aber der hat das so gut gemacht, kann er nicht auch noch die Brüste aufpumpen? Und die Wangenknochen sind auch ein wenig schwach ausgeprägt. Und regt sich da nicht ein Fältchen? Mutter Natur, ich übernehm jetzt die Kontrolle, ärger jemand anderen ab jetzt!

Oder:

Der Sixpack ist ja toll, aber der Bizeps…? Hat der Typ auf der Bank nebenan nicht ein wenig mehr davon? Und der Gluteus? Geht da nicht noch etwas? Bleib ich lieber noch ne halbe Stunde da… die Freundin kann zu Hause sicher noch warten, ich trainier lieber noch ne Weile. Ich kontrollier den Aufbau schon, keine Sorge. Mein Körper tut was ich will nicht umgekehrt. 

Das Prinzip ist immer das Gleiche. Man beginnt irgendwo, vielleicht sogar zurecht. Ein wenig mehr Sport, besseres Körpergefühl, gesündere Ernährung, das kann man ja, nein soll man doch, oder? Und wenn die Nase wirklich krumm und schief ist, wer versteht das denn nicht, dass man darunter leidet?

Aber viele finden eben immer wieder Makel die Leiden schaffen. Und so klein die von außen auch sein mögen, innen werden die oft sehr schnell sehr groß.

SIch selbst anzunehmen mit all seinen Fehlern und Makeln, ist oft sehr viel schwerer, als dies bei Anderen zu tun, denn an niemanden setzen wir einen so hohen Maßstab wie an uns selbst. Weil wir fürchten, wir könnten ungeliebt und ausgegrenzt enden, wenn wir nicht den höchsten Ansprüchen genügten.

Aber das ist Quatsch. Deshalb halte ich Fenster für wichtiger als Spiegel!

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